Es ist der Morgen nach dem Auffahrtswochenende, kurz nach sieben. Normalerweise kenne ich diese Tageszeit nur aus den Erzählungen der Lehrer und Lehrerinnen, aber heute hat mich ein nahezu fataler Koffeinmangel aus dem Haus getrieben. Ausgerechnet am vergangenen Sonntagmorgen hat sich der Gummiring meiner italienischen Espressoschraubmaschine endgültig in Kleinst- stücke aufgelöst. Seither versuche ich mich notdürftig mit Kamillentee über die Runden zu bringen.
Mit einem schnellen Blick in die Runde vergewissere ich mich, dass mich niemand vor der von mir vielfach angeprangerten Nespressomaschine sehen kann. Nur Momente später geniesse ich den ersten Schluck schwarzen Goldes. Erfreut aufseufzend lasse ich mich mit meiner dampfenden Kaffeetasse auf dem Sofa  in der Ecke nieder.

In diesem Moment höre ich ein Stöhnen hinter dem Sofa. Als ich mich zur Lärmquelle umdrehe, erblicke ich dort völlig zusammengequetscht Bernie Schmalz, ein Häufchen Elend sondergleichen.

«Was ist denn mit dir los, Bernie?», frage ich mitfühlend. «Kann ich dir helfen oder möchtest du, dass ich ein bisschen still neben dir sitze?»
«Mir kann niemand mehr helfen», wimmert Bernie verzweifelt. «Ich kann mich nie mehr auf dem Pausenplatz blicken lassen.» Unter Tränen erzählt er mir, dass ihm ein furchtbares Missgeschick auf Facebook passiert sei. Er habe seine intimen Fotos des letzten Wochenendes, welches er auf einem «Back to the Roots» Trommelseminar verbracht habe, statt für friends only für die ganze Welt sichtbar veröffentlicht. Nun hätten Orhan und Ricci aus der 3a die natürlich sofort gesehen und auf ihrer eigenen Seite veröffentlich, so dass sich die Bilder wie ein Lauffeuer verbreitet hätten. Beim Reinkommen habe er auch schon die ersten Farbausdrucke neben dem Eingang zur Turnhalle hängen sehen. Ich muss dreimal schlucken, damit ich nicht in ein hysterisches Kichern ausbreche. Ohne mir meine Gedanken anmer-ken zu lassen, setze ich gekonnt meine professionellste Miene auf und beuge mich zu Bernie Schmalz.

«Komm, alter Hippie, so schlimm ist das doch nicht. Du weisst doch, wie das mit dem Internet läuft: Du bist für ein paar Minuten berühmt und dann passierte das nächste Skandälchen und die Sache versinkt wieder in der Vergessenheit.»

«Glaubst du das wirklich, oder sagst du das nur, damit ich wieder hinter dem Sofa hervorkomme», flüstert Bernie kleinlaut.

«Ich bin überzeugt davon», sage ich mit fester Stimme. «Erinnere dich an all die anderen Missgeschicke, die uns hier schon passiert sind. Weisst du noch die Aufruhr, als Ruth Varkidakis ihre erste Elternratsitzung leitete und sie dabei während ihrer Powerpoint-Präsentation immer wieder ihr persönliches Hintergrundbild von ihr und ihren Töchtern im Bikini aufblitzen liess. Oder die peinliche Verwechslung, als Sonja in ihrer Funktion als Schulleiterin die vernichtende Beurteilung über die Feriengrundreinigung von Albert Jauch statt nur an Patrizia Partelli an alle Empfänger des Schulmails schickte. Wir sind hier doch alle so weit weg von Computerkompetenz wie Steve Jobs von einem  Batikhemd.»

Mit leicht geröteten Augen zwängt sich Bernie nach diesen tröstenden Worte hinter  dem Sofa hervor und sagt tonlos:

«Danke, dass du mir zugehört hast. Du hast Recht, ich muss mich der Situation stellen.» Mit erhobenem Haupt geht er zur Tür und öffnet sie mutig. Ich indessen lasse mich mit einem leisen Lächeln wieder aufs Sofa fallen und trinke genüsslich den letzten Schluck des jetzt kalten Kaffees. Von draussen sind deutlich Trommelgeräusche und ein paar aufreizende Pfiffe zu hören, dann ist es wieder still.

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